Sehr geehrter Herr A,
was Sie beschreiben, ist überhaupt kein Einzelfall. Viele Eltern haben Probleme damit, ihr Kind morgens aus dem Bett zu bekommen. Das kann mehrere Gründe haben:
1. Das Kind ist zu müde zum Aufstehen, weil es schlecht geschlafen hat oder abends zu spät ins Bett gekommen ist.
2. Es hat Probleme in der Schule, die es verdrängen möchte, indem es sich morgens sozusagen "tot stellt".
3. Das Kind verlässt sich auf die Mutter, die pünktlich und zuverlässig dafür sorgt, dass es rechtzeitig zur Schule kommt.
Ich rate Ihnen, zunächst die ersten beiden Punkte abzuklären, also Manuel abends rechtzeitig zu Bett zu bringen und sich dabei Zeit für ein kleines Ritual zu nehmen (Geschichte lesen, noch ein wenig mit ihm reden). Ein Gespräch mit der Lehrerin oder dem Lehrer kann Aufschluss darüber bringen, ob es, wie in Punkt 2 genannt, Probleme in oder mit der Schule gibt.
Da Sie aber schreiben, dass Manuel mit offenen Augen seelenruhig darauf wartet, bis Ihre Frau ihn aus dem Bett befördert, scheint mir bei Ihnen der letzte Punkt wahrscheinlich. Manuel weiß ganz genau, dass seine Mama kommen und ihn "retten" wird – sie hat das immer gemacht, er hat sich daran gewöhnt, warum sollte er also jetzt, da er einen eigenen Wecker hat, plötzlich Verantwortung für sich übernehmen? Dass Ihre Frau darunter leidet, kann er wohl nicht so recht verstehen.
Es kommt also darauf an, die Gewohnheit aufzubrechen. Das können Sie tun, indem Sie ihm erklären, dass Sie ihm von nun an zutrauen, weil er doch schon acht Jahre alt ist, wie ein »Großer« morgens selbst für sich verantwortlich zu sein – das bedeutet aber, dass Sie konsequent sind und ihn tatsächlich morgens nicht mehr wecken und riskieren, dass er in den nächsten Tagen zu spät in die Schule kommen wird. Kinder lernen aus Konsequenzen, und wenn Manuel wiederholt zu spät kommt, wird er diese peinliche Situation sicherlich bald vermeiden wollen.
Falls Ihnen das zu hart erscheint, bleibt Ihrer Frau nichts anderes übrig, als ihn weiterhin morgens zu wecken. Vielleicht kann es da einen Kompromiss geben: Die Mama kommt nur ein einziges Mal ins Zimmer; wenn er dann nicht reagiert, muss er die Konsequenz daraus ertragen.
Jedes Kind möchte groß und erwachsen sein, mit Manuel ist es sicher nicht anders. Bestärken Sie ihn in seiner Selbstständigkeit, übertragen Sie ihm im Haushalt kleine Aufgaben, loben Sie ihn, wenn er eine solche Aufgabe gut erledigt hat. Zeigen Sie Manuel, dass Sie sich über sein Größerwerden freuen und ihm schon einiges zutrauen, auch in Bezug auf seine allmähliche Selbstverantwortung, was die Schule betrifft. Sie sollten ihm vermitteln, dass die Schule in erster Linie seine Angelegenheit ist und nicht die seiner Mama.
Lieber Herr A, ich hoffe, ich kann Ihnen mit diesen Tipps weiterhelfen und würde mich freuen, von Erfolgen zu hören. Seien Sie dabei nicht ungeduldig. Es braucht manchmal Zeit, bis ein Kind seine Gewohnheiten aufgeben kann. Es muss das Gefühl haben, dass das Aufgeben einer solchen Gewohnheit keine Nachteile mit sich bringt, sondern durch etwas Angenehmes ersetzt wird. Also: Loben Sie Manuel kräftig, wenn er es morgens allein schafft!
Alles Gute für Sie und Ihre Familie!
Elke Leger